10.05.2021
PersönlichesAlltagsgeschichten

Einfach mal Mut machen ...

Letzten Freitag, 12 Uhr.

Ich hatte Hunger. Unser Pupertier hatte mal wieder alles weggeputzt und mir blieb nur eins - kurz zum Bäcker, wenn ich meine gute Laune behalten wollte. 

Um 12.10 h stand ich "maskiert" im Laden.

Ein junger Mann fragte mich freundlich nach meinen Wünschen. Ich sagte, es werden etwa 10 Brötchen und 2 Stückchen Kuchen. Das hatte er scheinbart überhört und nahm eine eher kleine Tüte für:

4 Schrippen (= weiße Brötchen hier im Raum Berlin), 3 Dinkel, 3 Körnerstangen, 1 Sesam, 1 Laugen ... sofort spürte ich - er war angespannt. Nervös. Die erste Tüte war nach 5 Brötchen voll und er knüddelte sie oben irgendwie zusammen. Ich sagte - es werden etwa nochmal so viele. Er nahm die gleiche zu kleine Tüte ein zweites Mal, packte ein Brötchen um - weil die erste ja zu voll war. Die Zange saß nicht sicher an den Brötchen. Und er war verkrampft konzentriert. Mmmhhh ... 

Von links tauchte eine BäckereiFachVerkäuferin auf. Ich kannte sie. Sie ist sonst immer sehr freundlich. Alter: statistische Lebensmitte. Direkt nörgelte sie lautstark an ihm herum. Tüte zu voll. Zu dies, zu das.

Ich bestellte zwei Stücke Kuchen. Ohne Kuchen geht ja nix. Klarer Fall von "süchtig" nach Teig, Quark-Joghurt-Schmand-Sahne, Streuseln ...

Also - 2 Stückchen Schmandkuchen. Eins für mich. Eins für meinen HomeOfficeMann ;-).

Er riss Papier ab und stellte fest - viel zu groß. SIE fuhr wieder dazwischen - und verpasste ihm mit schneidenden Kommentaren wieder einen links und einen rechts, drängte ihn zur Seite, halbierte das Papier.

Umständlich packte er den Kuchen ein. Das heißt, er versuchte es. Inzwischen - nach der Xten Vorführung durch seine Kollegin - zitterten seine Hände so stark, dass er das Papier kaum gebändigt bekam. Seine Nerven lagen offensichtlich blank. Dabei konnte er es. Ich hatte schön öfter Kuchen bei ihm gekauft ... bei ihm ALLEINE.

Das habe ich Dir doch schon 1.000 Mal gesagt. 

ER fragte die Dame super vorsichtig, auf welche Unterlage er sie heben sollte. SIE: "Das habe ich Dir doch schon 1000 mal gesagt. Immer auf die Kleinen." 

Er fingerte also zwei kleine braune Pappunterlagen aus dem Regal unter der Kasse hervor. Die  Kuchenplatte Schmandkuchen mit Mandarinen - rechteckig, schmal und unberührt. Das bedeutete: Kein Abstand zwischen dem ersten Kuchenstück und der Thresenkante. Er kam mit dem Heber nicht dazwischen. SIE turnte wieder im Hintergrund herum, was ihn sichtlich nervöser machte.

Ich versuchte dem jungen Mitarbeiter eine Brücke zu bauen: "Das erste Stück ist ja immer frickelig." Hätte ich mir auch sparen können. Aber, raus war raus. 

Er zog die Kuchenplatte etwas hoch und hantierte unsicher mit dem Heber herum. Querschnitt, Kanten lösen, abheben, zu Pappe 1 jonglieren und absetzen. Es dauerte. Aber es klappte. Das ganze glatte zwei Mal. Weil es ja zwei Stücke (nordrheinwestfälisch)  - bzw.  "2 Stücken" (brandenburgisch) waren.

Ergebnis: 2 kleine Pappen, mit je einem Stück Kuchen.

SIE sah das und nörgelte wieder: "Das habe ich Dir auch schon 100 mal gezeigt. ZWEI Stücke(n) auf EINE kleine Pappe, QUER." Drängte ihn zur Seite, baute um und triumphierte: "So macht man das. Das musste aber langsam mal wissen. Wie soll die Kundin das denn tragen? Und stell Dir vor, sie würde 10 Stücke(n) bestellen. Wat machste denn dann? ... " Zack. Wieder einen drübergezogen. Er presste sich ein kleinlautes JA ab.

Ich sagte zwischendrin:" Kein Problem. Ich nehme es auch einfach so, wie es ist. Das macht doch keinen Unterschied. Es ist NICHT schlimm. "

Wirtschaftlich natürlich schon. Zwei Pappen kosten doppelt so viel wie eine Pappe ... Ist klar ...

Draußen brachte sich inzwischen ein älterter Herr in Position. Er schien ungeduldig... Nicht gut für den jungen Mann. Ich merkte - mein "ich muss ihn dann aber beschützen"-Instinkt kam mehr und mehr in Wallung ... 

So. Das standen sie nun, die blanken Kuchenstücke(n) mit glänzender Mandarine. Nur noch Papier drauf und drum und fertig.

Üben. Üben. Üben. 

SIE drängte ihn schließlich wieder zur Seite, packte den Kuchen ein, zeigte ihm dabei, wie es geht und sagte laut:

"Wenn Du es nicht kannst, dann musst Du es eben üben. ÜBEN. ÜBEN. ÜBEN."

Den Spruch kenn ich auch. Und mir schwoll der Kamm, ohne ein Hahn zu sein. Oh, wie ich das gehasst habe.

Und damit löste sich in mir eine Sperre vollständig. Ich wusste, ich konnte das nicht unkommentiert hinter mir zurück lassen. Und erinnerte mich an eine Situation, in der ich von einer Tante einen Abend ständig vorgeführt wurde - zu wenig, zu langsam, zu schnell, zu genau, zu ungenau, zu dies, zu das, zu was weiß ich  ... -  und ihr Lebensgefährte damals für mich in die Bresche sprang. Es hatte mir in dem Moment so gut getan. Weil mein junges Selbstbewusstsein ziemlich am Boden war in der Situation. Ein ganz klares Déjá-Vu.

ER hat mir ungaublich leid getan und ich hatte immer mehr das dringende Bedürfnis, mich einzumischen und wartete nur auf den richtigen Moment. Im Laden war außer mir ja niemand - was wichtig war. Nicht für mich. Aber für SIE. Denn einfach war das für SIE ja auch nicht, wenn sich von außen jemand einmischt. 

Vor der Türe der ungeduldige DraußenMann. Ich glaube, er schnaubte schon. Weil alles so lange dauerte. Weil Genörgel einfach nicht schneller macht, er das aber nicht hören konnte, richtete sich sein Groll scheinbar inzwischen gegen mich.  Was musste ich auch so viel bestellen... OK. Eine gedankliche Unterstellung. Aber ... ich spüre Menschen. Sie müssen meistens NICHTS sagen.

SIE verschwand im Nebenraum... Und kam wieder raus mit den Worten: "Ein halbes Jahr machste das hier nun schon. ÜBUNG macht den Meister. Das ist wie beim Führerschein. Wenn Du ihn hast, musst Du auch üben. ÜBEN! ÜBEN! ÜBEN! Oder?" ER war fast verschwunden. So klein war er inzwischen geworden. Fast unsichtbar. Dabei war ihr Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet. Beifall erwartend. 

Einfach mal ein bisschen Mut machen!

Natürlich verstand ich, was sie meinte. Aber ich konnte keinen Anlass für Beifall erkennen und habe (ruhig) gefragt, warum sie ihm nicht einfach mal ein bisschen Mut macht? Einfach mal ein bisschen Mut machen für das, was gut gegangen ist? Es gibt immer etwas, was zwischendurch gut geht. Anstatt immer zu sagen, was alles nicht geht ... 

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ich keinen Beifall klatschte. Und stammelte ein verlegenes JA. Setzte dann kurz an zu ABER ... er müsse das doch jetzt können. Er sei doch schon ein halbes Jahr da. Sie machte den Job schließlich schon über 30 Jahre ...

JAAAA. Kann alles sein. Aber so wird das ganz sicher nix mit all dem GENÖRGEL AM LAUFENDEN BAND. Außerdem darf offensichtliche Unsicherheit und Schwäche keine Plattform für Triumph sein. 

Ihr war scheinbar nicht klar, was das für ihn bedeutete, coram publico ständig vorgeführt zu werden. Immer "zu dies" und "zu das" zu sein und nie richtig. Wie musst er sich dabei fühlen? Ich hatte eine Ahnung. Für mich war das als Kundin außerdem sehr unangenehm. 

Druck kann so schrecklich zerstörerisch sein. Mit Druck erreichte sie bei diesem jungen Mann offensichtlich nur eins - die totale Verunsicherung (Zitterpegel) - und DAS war auch meine Erfahrung vor über 30 Jahren.

Sich einmischen, wenn die innere Stimme Alarm schlägt.

Der DraußenMann riss schließlich die Tür auf und schnaubte "Kann ich jetzt vielleicht auch mal mein Brot kaufen ..."

Und ich sagte Danke für seine Geduld. 

Beim Rausgehen wünschte SIE mir freundlich einen schönen Tag. Und ich zurück. Die Stimmung war trotz allem freundlich geblieben. Und der junge Mann nickte mir kurz und zart zu. Er schien (!) ... dankbar. 

Sesambrötchen mit "guuuter Butter" und Nutella. Schrecklich lecker :-)

Als unser Sohn gestern Abend die Geschichte hörte, sagt er: "Ich finde es gut, dass Du was gesagt hast. Das hat ihm bestimmt geholfen."

Ich: "Vielleicht." Denn es könnte ja auch anders sein. Den Gedanken hatte ich natürlich auch. Helfe ich ihm wirklich damit? 

"Mama, nee. Nicht vielleicht. Mach Dir nicht so viele Gedanken. Ich finde es gut. Das ist etwas, was wir in der Schule immer so machen. Das gehört da zu unserer Kultur. Wir sagen, was wir denken und machen uns dann keine Gedanken mehr darüber, ob das nun gut war oder nicht." Hollla. Hollla. Beeindruckendes Statement meines 16-jährigen. Und auch toll, dass die Schule das fördert.

Und er sagte noch, dass ihm aufgefallen war (Samstag/Sonntag), dass der junge Mann entspannter war als sonst ... 

Ich finde es so wichtig, hinzusehen, was passiert. Hinzuhören, was gesagt und gemeint wird.

Und sich einzumischen, wenn die innere Stimme Alarm schlägt, dass es Zeit ist ...

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